9.2 Journalist:innen – „Verzögerung schreiben lernen“
📰 Systemische Position
Journalismus schafft Wirklichkeit – durch Auswahl, Ton, Sprache, Perspektive.
Verzögerung wird selten benannt – aber oft verstärkt: durch Frames, Balance-Reflexe, Strukturlosigkeit.
Medienethisch relevant: Wenn sprachliche Neutralität systemische Blockade nicht benennt, wird sie zur stillen Komplizin. Die Verantwortung journalistischer Arbeit liegt nicht nur in der Berichterstattung – sondern in der Wahl des Narrativs.
⏳ Verzögerung im Medienraum
- Konsens wird relativiert („Zwei Seiten“ trotz 97 % Wissenschaft)
- Verantwortung wird personalisiert („Klimaminister XY versagt“)
- Komplexe Strukturen werden vereinfacht – oder gar nicht erklärt
- Politik und Wirtschaft dürfen „Zukunft“ versprechen – ohne Gegenwart zu verändern
- Debattenlogik ersetzt Ursachenanalyse („Streit um Verbrennerverbot“ statt „CO₂-Budgets und Machtverhältnisse“)
Diese Muster zeigen sich in öffentlich-rechtlichen wie privaten Medien, in Kommentarspalten ebenso wie in Nachrichtensendungen.
🔧 Beispiel 1: Narrativ-Check vor Veröffentlichung
Kontext: Artikelentwurf zur „grünen Transformation der Industrie“
Standardzitate:
- Ministerium: „Wasserstoff als Schlüssel für klimaneutrale Industrie“
- Konzern: „Technologieoffenheit ist entscheidend“
Störender Check – vor Publikation
Fragen zur Redaktionssitzung oder Einzelprüfung:
- Wird hier Strukturkritik durch Techniksprache ersetzt?
- Wurde die historische Linie geprüft? (Seit wann wird „Wasserstoff“ versprochen?)
- Gibt es eine Quelle, die konkret benennt, was unterlassen wurde?
- Welche Interessen stehen hinter den zitierten Aussagen?
Alternativformulierungen
Statt: „Ein neues Gesetz soll die Industrie klimaneutral machen.“ Sag: „Ein weiteres Gesetz verspricht Klimaneutralität – ohne Verbindlichkeit oder Sanktion.“
Statt: „Technologieoffenheit als Schlüssel.“ Frag:> „Was wurde in der Vergangenheit durch Technologieoffenheit verschoben – und nicht entschieden?“
🔧 Beispiel 2: „Verzögerungshistorie schreiben“
Formatidee: „Wie alles begann – und nicht entschieden wurde“
Beispielthema: Wasserstoffstrategie
- Seit wann wird Wasserstoff als Lösung genannt? (z. B. 2006, 2011, 2019…)
- Was wurde versprochen – und was umgesetzt?
- Wer hat profitiert? Wer hat gebremst?
Mögliche Umsetzungsformate
- Zeitstrahl mit Originalzitaten
- Interview mit Energiehistoriker:in
- Analyse: Wie viele Gesetze wurden „geplant“, aber nie verabschiedet?
- Podcast-Serie: „Klimapolitik auf Pause“
Ziel:
Verzögerung als Prozess sichtbar machen – nicht nur Empörung referieren.
🔧 Beispiel 3: Framing sichtbar machen
Mini-Format: „Was gesagt wurde – und was gemeint war“
Originalzitat | Systemische Übersetzung |
---|---|
„Wir brauchen Zeit für tragfähige Lösungen.“ | „Wir wollen keine Maßnahmen mit echten Folgen.“ |
„Der Markt wird es richten.“ | „Wir wollen politische Verantwortung vermeiden.“ |
„Wir müssen ausgewogen berichten.“ | „Wir setzen Konsens und Lobby auf eine Stufe.“ |
Einsatzmöglichkeiten
- Social-Media-Serie (z. B. als Kachelformat oder Story)
- Mini-Kachel im Print oder Newsletter
- Online-Rubrik: „Verzögerungszitat der Woche“
- interne Redaktionsfortbildung: „Sprachkritik als Klimajournalismus“
🛠 Ergänzende Praxisformate
- Live-Analyse: Gemeinsames Lesen und Kommentieren eines politischen Statements
- Medienmonitoring: Schüler:innen oder Studierende dokumentieren typische Frames
- Interviewtraining: Wie fragt man „nach der Lücke“, nicht nur „nach der Meinung“?
📚 Weiterbildungs- & Literaturhinweis
- Ulrich, P. (2023): „Framing und Klima. Zur Verantwortung des Journalismus“
- Netzwerk Klimajournalismus Deutschland
- Fortbildungsformate u. a. bei CORRECTIV, klimafakten.de, Reporter:innenforum
💡 Fazit
Sprache kann beruhigen – oder beunruhigen.
Journalist:innen entscheiden, was sichtbar wird: ein Skandal – oder ein Muster.
Verzögerung beginnt dort, wo Begriffe nicht hinterfragt we