9.3 Jurist:innen – „Verzögerung normieren?“
⚖️ Systemische Funktion
Das Recht soll Ordnung schaffen – aber oft stabilisiert es Unordnung:
durch Formalismus, Entkopplung von Realität, Zuständigkeitsschleifen.
Verzögerung wird nicht nur toleriert, sondern häufig kodifiziert – durch Sprache, Verfahren, Prüfpflichten ohne Folgenbindung.
⏳ Verzögerung im juristischen Raum
- „Soll“-Formulierungen statt verbindlicher Rechtsverpflichtungen
- Prüfaufträge ohne Ergebnisbindung oder Sanktion
- Föderale Kompetenzverteilung = Verantwortungsdiffusion
- Schutzpflichten enden im Ressourcen- oder Ermessensvorbehalt
- Gerichtliche Untätigkeit durch Rückgriff auf Unbestimmtheitslogiken
Kontextualisierung: Diese Muster lassen sich systematisch in Umwelt-, Planungs-, Haushalts- und Energierecht nachweisen. In vielen Gesetzgebungsakten dient juristische Sprache nicht der Klarheit – sondern der Verschiebung von Zuständigkeit und Entscheidung.
🔧 Beispiel 1: Gesetzestext analysieren – „Strukturverweigerung als Norm“
Auszug (fiktiv, aber realistisch):
„Die zuständigen Stellen sollen unter Einbeziehung wirtschaftlicher, sozialer und ökologischer Belange Maßnahmen zur Minderung von Treibhausgasemissionen prüfen und gegebenenfalls ergreifen.“
Analyse
Formulierung | Wirkung | Intervention |
---|---|---|
„sollen“ | rechtlich unverbindlich, politisch beruhigend | Warum keine Pflicht (→ „haben zu“)? |
„unter Einbeziehung von…“ | beliebig auslegbar – keine Priorisierung | Wer definiert Gewichtung? |
„prüfen und ggf. ergreifen“ | Doppelverzögerung: erst prüfen, dann evtl. handeln | Was passiert, wenn geprüft – aber nicht gehandelt wird? |
📎 Miniaktion:
Kommentierte Version des Gesetzes im Ausbildungs- oder Weiterbildungsformat → Titel:
„Wie Sprache Wandel verhindert – eine juristische Lesung“
🔧 Beispiel 2: Gerichtsverfahren als Blockadehebel
Fall: Klimaklage gegen ein Bundesland
Entscheidung:
„Die Kläger:innen haben nicht hinreichend dargelegt, dass eine unmittelbare Grundrechtsverletzung zu erwarten ist.“
Strukturproblem
- Zukunft = Unbestimmtheit = Untätigkeit
- Risiko ≠ Rechtsanspruch
- Vorsorgepflicht wird zur Argumentationsbremse statt zur Handlungsnorm
📎 Störformat:
Verfasse eine fiktive Begründung, wie ein Gericht entscheiden könnte, wenn es systemisch denkt:
„Das bloße Fehlen eines quantifizierten Schadens begründet im Kontext der Klimakrise keine Untätigkeitspflicht. Der Staat schuldet Vorsorge – nicht Rückschau.“
🔧 Beispiel 3: Kommentierungspflicht als Leerstelle
Hintergrund:
Viele Gesetze enthalten Prüfpflichten (z. B. Umweltfolgenabschätzungen, Nachhaltigkeitschecks), aber kaum Konsequenzpflichten.
📌 Störfrage in Beteiligungsverfahren:
„Wie wurde das Ergebnis der UFA konkret in den Gesetzesentwurf eingearbeitet?“
„Welche Maßnahmen wurden nicht beschlossen – trotz ermittelter Umweltfolgen?“
„Warum reicht Prüfung ohne Korrektur?“
Ziel:
Verrechtlichung nicht als Schutz – sondern als Bremslogik sichtbar machen
📚 Zusatzformat: Verzögerungs-Glossar für Jurist:innen
Begriff | Systemischer Effekt |
---|---|
Verhältnismäßigkeit | Legitimation für Untätigkeit bei Zielkonflikten |
Ressourcenvorbehalt | Verschiebung von Verantwortung auf Haushalt/Budget |
Föderalismus | Zuständigkeit wird zirkulär verteilt |
Formelle Legalität | Strukturwandel wird am Maßstab des Verfahrens gestoppt |
Prüfauftrag | Handlung wird ersetzt durch Nachweispflicht ohne Wirkung |
➡️ Einsatz: Jurist:innenfortbildung, Ausbildung in Verwaltungs- oder Umweltrecht, Plakat in Referendar:innenzimmern
🛠 Didaktische Erweiterung
- Case Study: Analysiere eine reale Gesetzesbegründung auf Bremsformulierungen
- Methode: „Umformulieren als Intervention“ – aus „sollen“ wird „müssen“, aus Prüfauftrag wird Handlungspflicht
- Simulation: Fiktives Gericht im Jahr 2035 urteilt rückblickend über heutige Verzögerungspraktiken
💡 Fazit
Recht ist nie neutral. Es ist nie nur Rahmen – sondern auch Bremse oder Hebel.
Wer Gesetzestexte nur liest, sieht Regeln.
Wer sie stört, erkennt Strukturen – und kann sie aufbrechen.
Jurist:innen können systemische Verzögerung lesbar machen – und haftbar.