9.5 Alltagsperspektive – „Verzögerung im Wohnzimmer“
🏠 Systemischer Ort
Der Alltag reproduziert das System – durch Sprache, Routinen, Schweigen.
Nicht durch böse Absicht – sondern durch Gewöhnung an das Unangemessene.
🧩 Typische Verzögerungsmuster im Alltag
Muster | Erscheinungsform | Effekt |
---|---|---|
Entpolitisierte Sorge | „Ich hab ja auch Angst, aber was soll man machen?“ | Gefühl von Ohnmacht → Unterlassung |
Moralversatz | „Ich kaufe bio, fahre wenig – ich tu doch, was ich kann.“ | Verantwortung bleibt im Konsumbereich |
Themenverschiebung | „Das ist mir grad zu negativ.“ | Schutz des emotionalen Gleichgewichts |
Ironisierung | „Na gut, dann hören wir halt auf zu atmen!“ | Diskursbruch durch Lächerlichmachen |
Framing durch Normalität | „Man kann ja nicht auf alles verzichten.“ | Bestehendes erscheint unausweichlich |
🔧 Beispiel 1: Küchentischdialog – Mikroverzögerung im Gespräch
Kontext: Abendessen nach Nachrichtensendung über Extremwetter
Teilnehmer:innen: Anna (24), Vater (52), Mutter (49)
Dialogfragment:
Anna: Es ist doch absurd – wir wissen seit 40 Jahren, was passieren wird, und trotzdem passiert nichts.
Vater: Na ja, wir können nicht einfach alles abstellen. Es geht halt nicht so schnell.
Mutter: Ich finde auch, manchmal übertreiben sie. Man kann doch nicht alles auf die Politik schieben.
Anna: Aber wer dann? Ich kann nicht mit meinem Jutebeutel das CO₂-Budget retten.
Vater (lacht): Dann musst du halt Klima-Ministerin werden.
Mutter: Können wir das Thema lassen? Es zieht runter.
Analyse:
- Zeit-Relativierung („es geht halt nicht so schnell“)
- Verantwortungsdiffusion
- Ironisierung
- Emotionaler Gesprächsabbruch
Störimpulse für Anna:
- Rückfrage: „Was meinst du mit ‚es geht nicht‘ – technisch oder politisch?“
- Visualisierung: „Dürfen wir mal über das reden, was bewusst verzögert wird?“
- Konfrontation: „81 % der CO₂-Zunahme passierte, nachdem wir es längst wussten.“
🔧 Beispiel 2: WhatsApp-Chat – Mikrovermeidung
Kontext: WG-Gruppe, Semesterplanung
Verlauf:
Lea: Habt ihr den Klimabericht gesehen? Die sagen, Kipppunkte sind fast erreicht.
Tom: Uff. Ich kann’s nicht mehr hören. Wird immer schlimmer, aber keiner tut was.
Mira: Ja, ich versuch eh, weniger Fleisch zu essen.
Tom: Ich hab ja überlegt, ob ich mir ’n E-Roller zulege – zählt das?
Lea: Ich mein’s ernst. Ich hab Angst, dass ich in 20 Jahren nichts gemacht hab.
(2 Stunden keine Antwort)
Vermeidungsformen:
- Lifestyle-Framing (E-Roller)
- Moralisierung (weniger Fleisch)
- Schweigen bei Tiefenangst
Störversuche von Lea:
- Systemfrage: „Findet ihr auch, alles wird aufs Individuum geschoben?“
- Einladung: „Ich glaub, ich brauch Leute, die diese Angst auch zulassen können.“
- Ironiekonter: „Wenn E-Roller das Klima retten, kauf ich zwei – einen für den Nordpol.“
🔧 Beispiel 3: Bürokaffee-Störung
Kontext: Stadtverwaltung, Kaffeepause
Thema: autofreie Innenstadt
Dialog:
Kollege 1: Die wollen echt die Innenstadt dicht machen – was für ein Irrsinn.
Kollegin 2: Da denkt niemand an die Pendler – das ist wieder so eine grüne Spinnerei.
(Du hörst zu.)
Störoptionen:
- Faktischer Konter: „70 % der Fläche gehört dem Auto – aber nur 30 % fahren damit rein.“
- Verantwortungsverschiebung thematisieren: „Wer entscheidet das – und für wen?“
- Frame brechen: „Warum ist es gleich ein Verbot – und nicht Schutz?“
📂 Werkzeug: Alltagsverzögerungs-Decoder
Aussage | Versteckter Frame | Mögliche Störung |
---|---|---|
„Das ist mir zu negativ.“ | Emotionales Vermeidungsrecht | „Was ist schlimmer – reden oder schweigen?“ |
„Ich tu ja schon was.“ | Moralische Selbstvergewisserung | „Glaubst du, das reicht gegen Systemträgheit?“ |
„Wir müssen realistisch bleiben.“ | Norm-Stabilisierung durch Pragmatismus | „Realistisch für wen – und mit welchem Horizont?“ |
„Man kann ja eh nix machen.“ | Ohnmachtsmantra | „Wer will, dass du das glaubst?“ |
💡 Fazit: Nicht Weltrettung – sondern Realitätsbruch
Verzögerung lebt davon, dass niemand stört.
Störung beginnt nicht in Gesetzen – sondern in Gesprächen.
Wenn du einmal fragst, wo andere nur nicken,
wenn du einmal offen lässt, wo andere glätten,
wenn du einmal aushältst, was andere umschiffen –
dann hast du gestört. Und vielleicht: geöffnet.